Dienstag, 8. Januar 2019
Ich hasse den Winter. Mehr kann ich zu der aktuell vorherrschenden Jahreszeit nicht sagen. Diese ständige Kälte, der graue trübe Wolkenhimmel, Nieselregen bei vier Grad und noch schlimmer: Schnee und Glatteis. Ich habe keine Ahnung, wie man dieser Zeit etwas Positives abgewinnen kann. Hinzu kommt meine gesundheitliche Anfälligkeit bei kaltem feuchtem Wetter: Egal, wie gut ich mich ernähre, wie oft ich mich an der frischen Luft bewege, es dauert nicht lange und ich bemerke das erste Kratzen im Hals, gefolgt von Nasenlaufen, Husten und allgemeinem Krankheitsgefühl. Und ist die erste Erkältung überstanden, geht´s dann nach einer kurzen Phase der Rekonvaleszenz in die Rückrunde. Seitdem mein Sohn in der Kita ist, hat sich dieses Phänomen verstärkt. Vorletztes Jahr, quasi im ersten Kita-Winter, hatte ich von Ende Oktober bis Anfang März sage und schreibe sechs Erkältungen durchzustehen. Diese Erkältungen geben sich auch nicht mit "bisschen Halskratzen, bisschen Hüsteln" zufrieden, nein, das waren schon ausgewachsene Männerschnupfen mit echter malader Hinfälligkeit, Gliederschmerzen, die einen auf die Couch zwingen und Fieber. Mein Immunsystem und ich, wir sind definitiv keine Wintertypen, während der letzte Sommer, der Jahrhundertsommer mit wochenlang vorherrschender Wüstenhitze, mich nahezu überhaupt nicht tangiert hat. Im Gegenteil: Radmarathons mit mehr als 200 Kilometern konnten mir nichts anhaben.
So wenig, wie ich den Winter mag, so wenig habe ich auch an Wintersport. Skifahren zum Beispiel. Noch nie gemacht, noch nie auch nur ansatzweise Interesse für empfunden.
Besonders lästig wird der Winter, wenn er gedenkt, die Landschaft mit seinem lästigen Schnee zu verunreinigen. Da ist (Renn-)Radfahren gar nicht mehr möglich und Autofahren wird zum Drahtseilakt. Vor allem, wenn man einen Hecktriebler mit Stern im Kühler fährt. Ich bin ja bekennender Mercedes-Fan, aber wenn man nicht gerade einen allradangetriebenen 4matic sein Eigen nennt, sind diese Kisten im Winter, sobald etwas Schnee auf der Straße liegt, nicht zu gebrauchen.
Zu guter Letzt Weihnachten. Als wären diese drei Feiertage nicht genug, folgen anschließend noch Silvester und Neujahr und in meinem speziellen Fall weitere drei Geburtstage im Abstand weniger Tage. Mitte Januar bin ich vor lauter Feierei und Menschenkontakten dermaßen ausgelaugt, dass ich mir, man ahnt es, sofort wieder eine Erkältung einfange. Natürlich mit Fieber, Gliederschmerzen, Bettlägrigkeit und Nahtoderfahrung.
Bin ich froh, wenn die Tage wieder länger werden!

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Donnerstag, 20. Dezember 2018
Man sieht ihm nicht an, dass sein Leben vorbei ist. Er liegt da, das Gesicht rosig. Mit jedem Atemzug hebt und senkt sich sein Brustkorb. Dieser Umstand allerdings ist der Tatsache geschuldet, dass die Beatmungsmaschine neben seinem Bett unermüdlich Luft in seine Lungen pumpt. Auf dem Monitor über seinem Kopf flimmert die grüne Linie seines EKGs, ein regelmäßiger Sinusrhythmus. Ein paar Zahlen daneben -Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Herzfrequenz- alles im Normalbereich.
Alt ist er nicht geworden. Lediglich 52, als eine Hirnblutung aus einem Aneurysma, einer krankhaften Aussackung einer Hirnarterie, seinem Leben ein rasches Ende bereitete. Zwar konnte das Aneurysma noch mittels Kathetertechnik ausgeschaltet werden, die Schädigung des Gehirns aber war durch den erhöhten Druck im Schädel trotz einseitiger Entfernung der Schädeldecke zu groß gewesen. Lebenswichtige Areale des Gehirns sind abgestorben, haben ein Überleben nicht zugelassen.
Bereits vor zwei Tagen war die Narkose beendet worden. Seitdem war der Patient nicht wieder erwacht.
Ich öffne die Augenlider des Patienten und beobachte seine Pupillen: Bewegungslos, weit und entrundet starren sie an die Decke. Auch der Lichtstrahl meiner Untersuchungsleuchte lässt die Pupillen nicht kontrahieren. Die Bindehäute lassen die Augen bereits leicht milchig und trüb erscheinen. Ich prüfe weitere Hirnstammreflexe, sie bleiben allesamt erloschen. Ein späterer Test, bei dem geprüft wird, ob der Patient noch selbstständig atmet, wenn das Kohlenstoffdioxid hoch genug angestiegen ist, wird ebenfalls den Hirntod bestätigen.
Ich tausche mich mit meinem Kollegen aus, der ebenfalls und unabhängig die geforderten Untersuchungen zur Diagnose des Hirntodes vornimmt und kommt letztendlich zum gleichen Ergebnis. Die Bundesärztekammer gibt strikte Regeln vor, die es zu beachten gilt. Letzte Sicherheit und Nachweis der Irreversibilität des Hirntodes schließlich erbringt eine kontrastmittelgestützte Computertomographie der Hirnarterien: Das Gehirn des Patienten wird nicht mehr durchblutet. Von jetzt an ist der Patient offiziell tot.

Ich spreche mit den Angehörigen: Frau und Kinder, zwei Söhne im Alter von 18 und 22, blicken mich traurig und verzweifelt an, als ich ihnen berichte, dass der Patient verstorben ist. Zugleich ungläubige Blicke. Er lebt doch noch, scheinen die Augen der Ehefrau zu fragen. Die rosige Haut, der Herzschlag, die Atmung. Als würde ihr Ehemann lediglich schlafen. Nein, er ist tot, erkläre ich ihr. Lediglich die Beatmungsmaschine erhält den Körper, die Organe noch am Leben. Das Gehirn hingegen, Ort des Bewusstseins und der Persönlichkeit, ist tot.
Ich spreche behutsam die Möglichkeit der Organspende an. Manche Menschen haben sich zu Lebzeiten mit dieser Thematik auseinandergesetzt, tragen womöglich sogar einen Organspenderausweis mit sich. Die Möglichkeit, nach dem eigenen Tod Organe zu spenden, empfinden viele Angehörige als Trost. So lebe der geliebte Verstorbene noch ein Stück weit weiter, wenn auch in einem anderen Mensch. Oft wird der vielfach sinnlose frühe Tod eines Menschen sinnvoller erlebt, wenn mit den gespendeten Organen das Leben anderer Menschen erhalten oder gerettet werden kann.
Die Familie berät sich, dann willigt die Frau ein. Ihr Ehemann habe sich oft für eine Weitergabe seiner Organe nach seinem Tod ausgesprochen, berichtet sie. Eine Zeitlang bleibt die Familie noch bei dem Verstorbenen, verabschiedet sich. Sie wollen nicht dabei sein, wenn er abgeholt wird. Ich lasse den Dreien die ihnen noch benötigte Zeit und verlasse den Raum.

Zwischenzeitlich hat mein Kollege einen Mitarbeiter der Deutschen Stiftung Organspende, kurz DSO, kontaktiert und diesem den Fall kurz geschildert. Die DSO ist mit der Organisation der Organspende und Organexplantationen betraut. Der Mitarbeiter kündigt seinen Besuch in den nächsten Stunden an.
Als dieser eintrifft, sichtet er die ausgefüllten Unterlagen und begutachtet unsere Untersuchungsergebnisse. Manchmal, wenn die Verstorbenen an relevanten Vorerkrankungen gelitten haben, sind weitere Untersuchungen notwendig. In diesem Fall besteht keine Notwendigkeit. Der Mann war bislang gesund gewesen, hat nicht geraucht und weder Alkohol, noch Drogen konsumiert.
Dann geht alles recht schnell. Der Mitarbeiter von der DSO führt einige Gespräche, entnimmt dem Verstorbenen noch einmal Blut. Parallel informiere ich die Kollegen der Anästhesie sowie den OP-Manager. Die Explantation ist bereits für den heutigen Abend geplant. Die hierzu notwendigen Transplantationschirurgen aus den Transplantationszentren Deutschlands werden informiert und teilweise sogar mit dem Hubschrauber eingeflogen. Am späteren Abend wird der Verstorbene schließlich abgeholt. Der Ablauf unterscheidet sich nicht von dem eines lebenden Patienten, der zum OP gebracht wird. Die Narkoseeinleitung erübrigt sich: Ein totes Gehirn empfindet keine Schmerzen mehr. Der Mensch in dem von der Beatmungsmaschine am Leben erhaltenen Körper ist tot.

Ortwechsel. OP-Saal. Das erste Transplantationsteam ist eingetroffen. Schnitt. Der Körper des Verstorbenen reagiert mit Blutdruckerhöhung und beschleunigtem Herzschlag. Entgegen der Vorstellung, der Verstorbene könne noch Schmerzen empfinden, ist dieses Phänomen einfach zu erklären: Das Rückenmark des Verstorbenen ist noch funktionsfähig und hierüber verschalten die Schmerzfasern zu den sogenannten vegetativen Nerven, welche Herz und Blutdruck beeinflussen.
Zunächst werden die Nieren sowie die Leber entnommen. Der Chirurg begutachtet die Organe, befindet diese für transplantationsgeeignet und lässt die Organe aufbereiten. Anschließend verschwinden sie gekühlt in Spezialbehältnissen. Das nächste Team ist bereits eingetroffen, um das Herz sowie die Lungen zu entnehmen. Geschäftiges Treiben im Hintergrund. Das erste Team hat sich bereits auf den Weg gemacht, als der Herzmuskel von den großen Arterien und Venen abgetrennt wird. Zuvor ist dieser mit Hilfe einer speziellen eiskalten Elektrolytlösung, die sogenannte kardioplege Lösung, gespült und zum zum Stillstand gebracht worden. Ohne Blut wirkt das Herz wie ein heller grauer Klumpen Fleisch.
Es folgt die Explantation der Lungen, welche nach Wegfall der Sogwirkung durch den Brustkorb rasch in sich zusammenfallen. Auch Herz und Lungen werden aufgearbeitet und für die Reise sorgsam verpackt. Zügig macht sich auch das zweite Transplantationsteam auf den Weg. Längst ist der Monitor, der die Herz- und Kreislauffunktion des Verstorbenen überwachte, ausgeschaltet. Zurück bleibt ein ausgehöhlter Corpus. Tot, leblos, die Körperhöhlen weit geöffnet und ausgeweidet.
Ein Chirurg kommt schließlich vorbei, verschließt die Körperhöhlen wieder. Am Ende erinnern nur die vernähten Schnitte daran, dass dem Verstorbenen die Organe entnommen worden sind. Von einem Tuch bedeckt wird die Leiche nun in eine Kühlkammer der Pathologie gebracht. Ein Bestatter wird den Verstorbenen am nächsten Tag abholen.

Eine 55-jährige Patientin mit schwerer Lungenfibrose konnte Dank ihrer neuen Lungen ein neues Leben beginnen.
Die rechte Niere erhielt ein junger 25-jähriger Mann, der wegen einer autoimmunologischen Nierenerkrankung seit drei Jahren dreimal wöchentlich zur Dialyse musste. Die linke Niere wurde einer 50-jährigen Frau mit langjähriger diabetischer Nierenerkrankung und Dialysepflichtigkeit seit mehr als 5 Jahren implantiert. Teile der Leber retteten das Leben eines 17-Jährigen, der an einer autoimmunologischen Lebererkrankung litt und auch das Herz fand seinen neuen Besitzer: Eine 60-jährige Patientin mit schwerer Kardiomyopathie und Bettlägrigkeit nach Infektion des Herzmuskels mit einem Virus.

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Donnerstag, 13. Dezember 2018
Es ist ein aufgeregtes Schreien. Das Schreien einer Frau. Hysterisch, grell. Ich nehme es nur beiläufig wahr und unterhalte mich weiter mit meinen Arbeitskollegen, mit denen ich mich im Gemeinschaftsraum befinde. Die Morgenbesprechung ist vorüber und der Kaffee steht dampfend auf dem Tisch. Das Schreien der Frau dringt gedämpft durch das Fensterglas in den Raum. Irgendwo da draußen. Ich bewerte es wie jedes Geschrei da draußen, vor den Türen der Psychiatrie. Irgendeine Verrückte mit Erregungszustand, wahrscheinlich im Klammergriff zweier Polizeibeamte, eingewiesen in die hiesige geschlossene Abteilung. Das übliche Geschrei, das dabei fast schon obligatorisch ist. Mehr beiläufig schaut meine Kollegin aus dem Fenster, um den Grund des Geschreis auszumachen. Da unten wird ein Kind reanimiert, sagt sie tonlos. Ich bewege mich zum Fenster, erkenne zunächst nichts. Eine Menschentraube vor einem Krankenwagen, dessen Seitentüre geöffnet ist. Inmitten der Traube erblicke ich ein Kind. Ich verspüre einen starken Drang zu helfen, stelle meine Kaffeetasse auf den Tisch und stürze aus dem Raum in den Gang, hinaus ins Treppenhaus, drei Stockwerke hinunter ins Foyer des Gebäudes. Tausend Gedanken tosen durch mein Gehirn. Könntest Du ein Kind intubieren, frage ich mich. Ich stelle mich darauf ein, derjenige zu sein, der es versuchen muss. Ein Kind intubieren, einen Beatmungsschlauch in seine Luftröhre einführen. Obgleich ich einige Zeit als Notarzt tätig gewesen bin, war mir immer das Glück zuteil, keine schwerwiegenden Kindernotfälle versorgen zu müssen. Ich verlasse das Gebäude. Kalte Luft schlägt mir entgegen. Ich bahne mir einen Weg durch die Menschentraube, vernehme das Schreien der Mutter. Da liegt es. Das Kind. Ein kleiner Junge, fünf Jahre erfahre ich. Eine Kollegin aus der Anästhesie ist zwischenzeitlich eingetroffen und reanimiert mit einem Rettungssanitäter den leblosen kleinen Körper. Meine Hilfe wird nicht benötigt. Das stumme Ritual einer Reanimation. Mechanisch, wortlos. Neunundzwanzig, dreißig, höre ich den Rettungssanitäter, der die Herzdruckmassage durchführt. Sogleich beginnt die Anästhesistin das Kind mit Hilfe eines Beatmungsbeutels zu beatmen. Der Brustkorb hebt sich. Einmal, zweimal. Ich schlucke, werde mir langsam der Situation bewusst. Da liegt ... ein Kind! Tot. Leblos. Ich schlucke noch einmal und spüre, wie sich Tränen ihren Weg in meine Augen bahnen. Ich schlucke, kämpfe. Mit den Tränen. Dieses arme Kind. Das Leid der Mutter. Ich denke an mein eigenes Kind. Mein Sohn. Zweieinhalb Jahre alt, stelle mir vor, wie es wäre, wenn er da läge. Alles in mir verkrampft sich. Ich versuche, diese Gedanken beiseite zu schieben, spüre, wie sich meine Gesichtsmuskeln kontrahieren. Ich wende mich ab und kämpfe. Mit meinen Tränen. Das Kind erwacht. Ganz plötzlich öffnet es die Augen, blickt leer umher. Ich bin nicht sicher, ob es bei Bewusstsein ist, aber der Rettungssanitäter beendet die Herzdruckmassage. Es lebt, bewegt seine Lippen. Ich spüre Erleichterung, freue mich, wundere mich, wie rasch die Wiederbelebungsmaßnahmen zum Erfolg geführt haben. Ganz anders als in der Erwachsenenmedizin. Beschwingt verlasse ich den Ort und begebe mich zurück.
Am Nachmittag, als ich einen Kollegen aus der Kinderklinik auf den kleinen Jungen anspreche, erfahre ich, dass er es nicht geschafft hat. Sein Herz sei später erneut stehengeblieben. Ich schlucke erneut, denke an die Mutter, denke an meinen Sohn. Es gibt nichts grausameres, als seine eigenen Kinder zu Grabe tragen zu müssen. Wie erträgst du das, frage ich den Kinderarzt, sterbende Kinder ... Auch in meinem Fachbereich sterben Menschen. Diese sind aber in der Regel alt. Natürlich ist der Tod eines jeden Menschen bedauernswert, aber bei einem Achtzig-, Neunzigjährigen, der schwer erkrankt, ist es absehbar. Aber bei einem Kind? Der Kinderarzt wirkt wenig berührt, bleibt sachlich und fachlich. Wahrscheinlich hat er solche Situationen schon zu oft erleben müssen. Ich denke wieder an meinen Sohn und wünsche mir für ihn ein langes gesundes Leben.

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