Donnerstag, 13. Dezember 2018
Es ist ein aufgeregtes Schreien. Das Schreien einer Frau. Hysterisch, grell. Ich nehme es nur beiläufig wahr und unterhalte mich weiter mit meinen Arbeitskollegen, mit denen ich mich im Gemeinschaftsraum befinde. Die Morgenbesprechung ist vorüber und der Kaffee steht dampfend auf dem Tisch. Das Schreien der Frau dringt gedämpft durch das Fensterglas in den Raum. Irgendwo da draußen. Ich bewerte es wie jedes Geschrei da draußen, vor den Türen der Psychiatrie. Irgendeine Verrückte mit Erregungszustand, wahrscheinlich im Klammergriff zweier Polizeibeamte, eingewiesen in die hiesige geschlossene Abteilung. Das übliche Geschrei, das dabei fast schon obligatorisch ist. Mehr beiläufig schaut meine Kollegin aus dem Fenster, um den Grund des Geschreis auszumachen. Da unten wird ein Kind reanimiert, sagt sie tonlos. Ich bewege mich zum Fenster, erkenne zunächst nichts. Eine Menschentraube vor einem Krankenwagen, dessen Seitentüre geöffnet ist. Inmitten der Traube erblicke ich ein Kind. Ich verspüre einen starken Drang zu helfen, stelle meine Kaffeetasse auf den Tisch und stürze aus dem Raum in den Gang, hinaus ins Treppenhaus, drei Stockwerke hinunter ins Foyer des Gebäudes. Tausend Gedanken tosen durch mein Gehirn. Könntest Du ein Kind intubieren, frage ich mich. Ich stelle mich darauf ein, derjenige zu sein, der es versuchen muss. Ein Kind intubieren, einen Beatmungsschlauch in seine Luftröhre einführen. Obgleich ich einige Zeit als Notarzt tätig gewesen bin, war mir immer das Glück zuteil, keine schwerwiegenden Kindernotfälle versorgen zu müssen. Ich verlasse das Gebäude. Kalte Luft schlägt mir entgegen. Ich bahne mir einen Weg durch die Menschentraube, vernehme das Schreien der Mutter. Da liegt es. Das Kind. Ein kleiner Junge, fünf Jahre erfahre ich. Eine Kollegin aus der Anästhesie ist zwischenzeitlich eingetroffen und reanimiert mit einem Rettungssanitäter den leblosen kleinen Körper. Meine Hilfe wird nicht benötigt. Das stumme Ritual einer Reanimation. Mechanisch, wortlos. Neunundzwanzig, dreißig, höre ich den Rettungssanitäter, der die Herzdruckmassage durchführt. Sogleich beginnt die Anästhesistin das Kind mit Hilfe eines Beatmungsbeutels zu beatmen. Der Brustkorb hebt sich. Einmal, zweimal. Ich schlucke, werde mir langsam der Situation bewusst. Da liegt ... ein Kind! Tot. Leblos. Ich schlucke noch einmal und spüre, wie sich Tränen ihren Weg in meine Augen bahnen. Ich schlucke, kämpfe. Mit den Tränen. Dieses arme Kind. Das Leid der Mutter. Ich denke an mein eigenes Kind. Mein Sohn. Zweieinhalb Jahre alt, stelle mir vor, wie es wäre, wenn er da läge. Alles in mir verkrampft sich. Ich versuche, diese Gedanken beiseite zu schieben, spüre, wie sich meine Gesichtsmuskeln kontrahieren. Ich wende mich ab und kämpfe. Mit meinen Tränen. Das Kind erwacht. Ganz plötzlich öffnet es die Augen, blickt leer umher. Ich bin nicht sicher, ob es bei Bewusstsein ist, aber der Rettungssanitäter beendet die Herzdruckmassage. Es lebt, bewegt seine Lippen. Ich spüre Erleichterung, freue mich, wundere mich, wie rasch die Wiederbelebungsmaßnahmen zum Erfolg geführt haben. Ganz anders als in der Erwachsenenmedizin. Beschwingt verlasse ich den Ort und begebe mich zurück.
Am Nachmittag, als ich einen Kollegen aus der Kinderklinik auf den kleinen Jungen anspreche, erfahre ich, dass er es nicht geschafft hat. Sein Herz sei später erneut stehengeblieben. Ich schlucke erneut, denke an die Mutter, denke an meinen Sohn. Es gibt nichts grausameres, als seine eigenen Kinder zu Grabe tragen zu müssen. Wie erträgst du das, frage ich den Kinderarzt, sterbende Kinder ... Auch in meinem Fachbereich sterben Menschen. Diese sind aber in der Regel alt. Natürlich ist der Tod eines jeden Menschen bedauernswert, aber bei einem Achtzig-, Neunzigjährigen, der schwer erkrankt, ist es absehbar. Aber bei einem Kind? Der Kinderarzt wirkt wenig berührt, bleibt sachlich und fachlich. Wahrscheinlich hat er solche Situationen schon zu oft erleben müssen. Ich denke wieder an meinen Sohn und wünsche mir für ihn ein langes gesundes Leben.

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